Kangeiko – eine Erfahrung, die mich bereichert hat
In unserem befreundeten Dojo, dem Seishinkan, fand vom Montag, den 25.1. bis Freitag, den 29.01.2016, das jährliche „Frühtraining“ statt; in diesem Jahr habe ich daran teilgenommen und weiß bereits jetzt, dass ich im nächsten Jahr auch wieder dabei sein möchte.
„Frühtraining“ sagt lediglich aus, dass es zwischen 7 und 8 Uhr morgens stattfindet (und nach Belieben mit einem „Abendtraining“ ergänzt werden kann). In dieser Art werden in Japan auch Veranstaltungen abgehalten; beim Kangeiko ist jedoch etwas anderes gemeint.
Auf der Homepage des Seishinkan ist es erläutert:
„Die Kangeiko (jap. 寒稽古) ist, einfach übersetzt, das Training in der kalten Jahreszeit. Kan, das Zeichen für kalt, Keiko, das Zeichen für Üben. Zusammen wird dies im Japanischen Kangeiko genannt. In japanischen Dojos ist es sehr verbreitet, am Anfang des Jahres dieses Keiko früh morgens eine Woche lang durchzuführen, an deren Ende das Kagamibiraki stattfindet.”
Ich selbst bin seit Oktober 2014 beim Aikido und hatte als Neuling im Januar 2015 das erste Mal davon gehört. Die Teilnehmer aus dem Harburger Dojo waren mit mir abends, zu den regulären Trainingszeiten, auf der Matte und erzählten davon. Da viele Dan-Träger beim Kangeiko teilnehmen, dachte ich zunächst, dass dies eine elitäre Veranstaltung sei. Nun weiß ich allerdings, dass es nicht Personen mit hoher Bedeutung vorbehalten ist, eher, dass die Personen dem Kangeiko eine hohe Bedeutung zuschreiben; so wie ich.
Im Vorwege habe ich mir nicht allzu viele Gedanken über das Training gemacht, sondern fand den Gedanken reizvoll, eine intensive Trainingswoche zu erleben. Ich versprach mir etwas in der Art wie es die (japanischen) Mönche praktizieren, die sogenannte Sesshin. Dies erfolgt mehrmals im Jahr und ist geprägt durch eine häufige Meditation mit nur wenigen Unterbrechungen, um das Notwendigste zu erledigen. Was da im Einzelnen mit einem passiert, muss selbst erlebt und kann nicht beschrieben werden. Eine Sesshin habe ich bisher nicht mitgemacht, jedoch die Meditation (Zazen); üblicher Weise wird Zazen morgens in der Frühe als erstes direkt nach dem Aufstehen praktiziert, da der Geist noch unbefangen ist. Beim Kangeiko wird ebenfalls früh morgens (das Aikido) geübt, was im Idealfall in großer Geistesgegenwart und Achtsamkeit erfolgt. So war ich gespannt, was mich erwarten würde.
Ich war sehr froh neben Eckhardt (5. Dan), auch Milan („Miki“) aus Novi Sad / Serbien (4. Dan) und Björn (3. Dan) erleben zu dürfen, was sehr lehrreich war. Sehr interessant war es für mich, dass das Training von Björn überraschend „anders“ als sonst war, was nicht nur bei mir gut ankam. Letztendlich sehe ich das Kangeiko als einen richtigen Lehrgang an.
Diese bunte Mischung der Trainer ist auch unter den Teilnehmern zu finden; am weitesten sind Simone und Nikola aus Leno bei Brescia / Italien angereist, Steffen („Steff“) aus Fredericia / Dänemark und, zum Ende der Woche, Jørgen aus Oldenburg (Oldb) kamen hinzu. Durch diese internationale Mischung wurde das Training oft in Englisch bzw. zweisprachig geleitet, was ich als respekterweisend ansehe und nicht für selbstverständlich halte.
Insgesamt waren wir jeden Tag über 20 Personen auf der Matte, wobei am Montag und am Freitag die meisten anwesend waren. Von einem, der schon öfters die ganze Woche mitmacht hatte, hörte ich, dass es einem am Dienstag und Mittwoch schwerer fällt. Am Donnerstag und Freitag hat sich der Körper bereits darauf eingestellt. Hier gilt es den innerem Schweinehund zu überwinden, insbesondere wenn das eine oder andere Abendtraining hinzukommt; dies erklärt den Einbruch der Teilnehmer in der Mitte der Woche. Ich bin ein bisschen stolz, dass ich es mitgemacht habe; wenn ich nachzähle, waren es 8 Trainingseinheiten von Montag bis Samstag (vor dem Kagamibiraki gab es zusätzlich ein kleines Training).
Beim letzten regulären Training vor der Kangeiko-Woche wurde eine Fahrgemeinschaft verabredet, um gemeinsam pünktlich vor Ort zu sein; ich durfte bei Björn, Robert und Steff zusteigen, die nahezu vor meiner Haustüre einen Aufnahmepunkt fanden – herzlichen Dank nochmal dafür! Über die Woche hatte ich während der Fahrt auch feststellen können, dass die morgendlichen Gespräche sehr unterhaltsam waren, so dass für mich die Anreise selbst zur täglichen Vorfreude beigetragen hat. Dazu gehörte auch ein wiederkehrendes Erlebnis mit einem die Straße blockierenden „Einkäufer“; wir hatten schon unseren Spaß. Obwohl die Jahre zuvor der Straßenverkehr gegen 6:15 Uhr eher übersichtlich gewesen sein soll, so berichtete der Fahrer Robert, waren in diesem Jahr deutlich mehr Fahrzeuge auf der Bahn; dennoch kamen wir jeden Tag ohne zeitlichen Stress an.
Als wir am Montag Morgen das Dojo betraten, waren wir fast die ersten und konnten uns voller Ruhe umkleiden; nach und nach kamen immer mehr Teilnehmer, wodurch mir die Größe und Bedeutung der Veranstaltung deutlich wurde. Die wenigsten kannte ich. Als ich allerdings Milan erkannte, der offensichtlich extra aus Serbien angereist war, wurde meine Spannung noch weiter erhöht. Kurz darauf kam Eckhardt mit einer Flagge in das Dojo und nutze das englische Wort „demonstration“; in vielen verschieden Sprachen stand dort „Frieden“, was das Motto dieser Kangeiko-Woche sein sollte. Diese Flagge wurde dann außen vor dem Dojo wie ein Plakat aufgespannt und begleitete uns somit jeden Tag.
Nachdem die rituelle Begrüßung abgeschlossen war, sprach Eckhardt zur Eröffnung des Kangeiko ein paar Worte über das Motto und den Ablauf der Woche; auch dankte er den vielen anwesenden Teilnehmern, vor allem den weit angereisten. Zum Abschluss sagte er, dass Dienstag das Training von Milan und Mittwoch von Björn geleitet würde, und dann ging es los…
Wie ich eingangs geschrieben habe, ist unter den Teilnehmern ein recht hoher Anteil von Dan-Trägern vertreten, aber meine unbegründete Scheu fiel schnell ab, als ich mich trotz meines 4. Kyu-Grades und zumeist unbekannten Techniken überraschend schnell in die Bewegungen eingefügt habe. Auch wenn ich mit den meisten noch nicht trainiert hatte, war zu keiner Zeit das Gefühl da, dass der Partner besonders ruppig oder gewaltsam wäre und dadurch eine Qual entstehen würde. Dieses hatte ich in der Vergangenheit während meiner Zeit beim Jiu Jitsu erleben müssen, was nun aber fast zwanzig Jahre zurück liegt. Beim Aikido ist es eher das Gegenteil, so wurde ich von den vorerst unbekannten Partnern auf Verbesserungen aufmerksam gemacht, was sehr bereichernd war. Im heimatlichen Dojo in Harburg geschieht dies selbstverständlich auch, aber beim Kangeiko kamen andere Impulse.
Beim Aikido sind wir durch das Tragen des Hakama alle gleich, den Obi (jap. „Gürtel“) sieht man nur sehr undeutlich, was die Äußerlichkeiten in den Hintergrund treten lässt und einzig das Geben und Handeln jedes einzelnen in den Vordergrund rückt. Dies ist für mich eine der vielen Wahrheiten im Aikido; einer der Gründe, weshalb ich diesen Weg gehe. Genau dies habe ich bei einem Trainingspartner feststellen können: Durch seine präzisen Ausführungen und seine angebotenen Verbesserungsvorschläge habe ich ihn als hoch graduiert vermutet. Beim Kagamibiraki erhielt er aber erst den 1. Kyu-Grad, was mich wegen meiner eigenen vorherigen Vermutung überraschte, jedoch auch gleichzeitig für ihn freute. Ein schöner Moment.
Was mir immer sehr gut gefällt, ist, wenn vom Trainer zwischen den einzelnen Techniken Erläuterungen oder Hinweise kommen, die auf dem ersten Blick mitunter gar keinen Bezug zum Aikido haben. Hier bleibt es jedem selbst überlassen, was sie oder er mit diesen Worten anfangen mag. Manchmal hilft es, ein Problem mit anderen Augen zu sehen, und mitunter ist das Gesagte vielleicht sogar ohne tieferen Grund.
Allerdings gibt es auch Erläuterungen und Hinweise, die einen direkten Bezug zum Aikido oder dem Verbessern des eigenen Selbst dienen. Ich gebe hier jetzt kein Beispiel, da es schwer wieder zu geben ist. Zum einen kommt es sehr spontan, zum anderen hängt es von der Situation ab – um jetzt völlig zu verwirren: es kann zu einem anderen Zeitpunkt sogar das Gegenteil gemeint sein. Das ist das Leben, das ist die Wahrheit.
Die Stunde Training war schnell vorbei. Als zum Ende der Dank „Domo Arigato Gosaimashita“ kam, waren ganz deutliche Unterschiede zu hören, so betonten die Italiener das „a“ am Ende von „GosaimaschtAAAA“ besonders. Dies zeigte mir, welchen Reichtum dieser Moment mit sich brachte.
Nach ein paar abschließenden Worten wurde dann gefragt, wer zum Frühstück bleiben mag; es waren im Schnitt immer rund 12 Personen, die ihren Arbeitsbeginn flexibel gestalten konnten oder schlicht frei hatten. Im Anschluss wurde dann abgestimmt, wer den Einkauf übernimmt. Diese durften sich gleich in die Dusche verabschieden, um möglichst zeitnah alles herbeizubringen. Die, die nicht einkauften, bereiten im Dojo den Tisch und kochten Kaffee und Tee.
Vor dem Frühstück wurden aber zunächst die Tatami (Matten) nach der traditionellen Art gereinigt. Dazu werden Lappen mit Wasser durchfeuchtet und ausgebreitet auf die Tatami gelegt; mit beiden Händen werden sie gehalten, während dann gebeugt – Spur für Spur – vorwärts gerannt wird. Bei dieser Arbeit beteiligen sich ausnahmslos alle.
In der Zwischenzeit wurde platzbedingt die Umkleide nur schubweise genutzt; wer die Tatami gereinigt hatte und nicht sofort bereits zur Arbeit aufbrach, hat das Frühstück vorbereitet. Nach japanischer Manier wurden niedrige Tische und Sitzkissen auf den (nun gereinigten) Tatami aufgebaut. Die Kaffeemaschine und der Wasserkocher für Teewasser liefen parallel. In dem Rahmen des Frühstücks ließen sich auch viele interessante Gespräche führen; so nutzte ich einen ruhigen Moment, um mit Milan zu reden, was mir sehr wichtig war.
Das gemeinsame Frühstück ist eine – wie ich finde – schöne Tradition, die ich nur jedem empfehlen kann, sofern es sich einrichten lässt. Nach dem Ende des Frühstücks wurde alles abgeräumt, gereinigt und wieder verstaut; die Matte war bereit für das nächste Training (am Abend).
Nach dem Frühtraining folgte für die meisten die Arbeit; ich hatte jeden Tag der Woche eher ein gutes, entspanntes Gefühl und war daher kein bisschen ermattet oder müde. So konnte der Tag beginnen!
Am Montag- und am Freitagabend stand natürlich auch das reguläre Training in unserem Dojo an; da Steff in Harburg untergebracht war, ließ er es sich nicht nehmen, auf Bitten von Björn bei uns das Training zu geben. Die Kinder waren hoch erfreut, da auch ihr Training mit Steff stattfinden sollte; sie wollten „Bitte, bitte, bitte!“ unbedingt die fünf Affen des Aikido von ihm gezeigt bekommen. Wer kann da denn „nein“ sagen?!
Durch die vielen Trainings war ich zu Hause nur wenig zu sehen, aber meine Frau hat mich bestens unterstützt, was mir sehr viel bedeutet – danke! Aber eine Woche war ja auch nicht zu lang und so kam der Samstag mit dem Kagamibiraki.
Das Kagamibiraki ist in Japan eine traditionelle Zeremonie und bedeutet das “Zerschlagen des Spiegels”. Wer sich etwas mit der japanischen Kultur befasst hat, wird hier sicher nicht das Zerbrechen der Spiegel einer Wohnung (vielleicht aufgrund einer Abwrackprämie) vermuten, sondern eine reflektierende Fläche. In Japan wird in der Literatur häufig Wasser mit dem sich darin spiegelnden Mond(licht) erwähnt; allerdings ist auch dies hier nicht gemeint.
Die Zeremonie bezeichnet den Abschluss von etwas (hier des vergangenen Aikido-Jahres) und den Beginn von etwas Neuem (also dem neuen Aikido-Jahr); es wird im Seishinkan jedes Jahr als große Patrty gemeinsam mit den Familien der Aikidoka abgehalten. Das “Zerschlagen des Spiegels” ist zentraler Bestandteil; hier wird ein Fass mit Sake aufgeschlagen und – nachdem das Fass geöffnet wurde – betrachtet man sich selbst in der reflektierenden Oberfläche des Sake. Wenn nun mit einer Schöpfkelle die Oberfläche durchbrochen wird, verschwindet dieses Selbstbild und nachdem die Schöpfkelle das Trinkgefäß gefüllt hat, ist wieder ein neues Selbstbild in der Oberfläche zu erkennen; ein neuer Anfang.
Ich finde diese Betrachtungsweise sehr schön und habe dies für mich mitgenommen: Ein neuer Anfang ist gemacht, wenn man das alte Selbstbild einfach zurücklässt.
Um diesen Bericht nicht zu sprengen, beende ich ihn einfach an dieser Stelle. Auch wenn ich ungerne halbe Sachen mache – alleine für das Kagamibiraki könnte ich ähnlich viel schreiben – mache ich hier jetzt einen Schnitt, bevor etwas Halbherziges entsteht. Gewünscht hätte ich mir noch, den Text in Englisch zu verfassen, aber ich lasse jetzt los…
Abschließend möchte ich noch(mal) betonen, wie sehr mir Aikido gefällt, wie sehr es mich auch im Alltag begleitet und bereichert.
Domo Arigato Gosaimashita!
Kai