Japan – Land des Lächelns trotz Fukushima
Im Oktober fand auf Izu, einer Halbinsel circa 200 km südwestlich von Tokyo, das zweite Tendo World Seminar statt. Wie bereits zu dem ersten Seminar 2009 machten sich auch in diesem Jahr Tendoryu Aikidoka aus vielen Teilen der Welt auf die, zum Teil sehr lange und anstrengende, Reise nach Japan. Für einige war der Antrieb doch wenigstens einmal im Geburtsland des Aikido und auch im Tendokan zu trainieren, andere waren schon ein- oder mehrmals in Japan und wollten ihre Eindrücke festigen, das Training intensivieren und Freunde wiedersehen. „Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.“ Mit diesem Satz des französischen Schriftstellers Proust im Kopf und in Begleitung von bis zu 9 anderen Hamburgern – vom Japan-Neuling bis zum jährlichen Japan-Fahrer – ging es in das Land der aufgehenden Sonne.
Nach einem ruhigen Flug von Hamburg über Istanbul ging es nach Narita und schon beim Verlassen des Flugzeugs wurde jedem klar: Japan ist anders! Sicherlich, je weiter man die eigene Heimat verlässt, desto fremdartiger werden das Essen, die Autos, die Bauwerke und die Gesichter… aber in Japan ist es noch mehr; wenn man weder die Sprache versteht, noch das Geschriebene lesen kann, achtet man um so mehr auf die Menschen, ihr Verhalten, ihren Umgang untereinander und mit einem Fremden wie man selbst. Auch wenn ich seit meinem letzten Besuch (zum Seminar 2009) schon Unterschiede merken konnte, ganz zu schweigen von Berichten aus den Jahrzehnten davor, so sind die Japaner nicht nur extrem höflich sondern auch aufmerksam. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass Japan ein sehr sauberes und vor allem sicheres Land ist, wundert es mich nicht, dass sich alle aus unserer Gruppe sofort sehr wohl oder sogar heimisch fühlten.
Trotz des langen Fluges gab es nach unserer Ankunft nur eine sehr kurze Pause, kaum hatten wir unser Hotel Fukudaya – der Besitzer erinnerte sich noch an einige von uns von vor 3 Jahren – erreicht, holten wir die guten Anzüge aus den Koffern und gemeinsam ging es ins Zentrum von Tokyo, wo Marcus und Sachiko zur Feier ihrer Hochzeit eingeladen hatten. Marcus, mit dem wir jahrelang in Hamburg zusammen trainiert hatten, war vor knapp zwei Jahren nach Japan ausgewandert, und so freuten wir uns nicht nur auf das Erlebnis einer japanischen Hochzeit, sondern auch auf das Wiedersehen mit einem alten Freund. Die Feier fand in einem traditionellen Gasthaus statt und obwohl dieses neben vielspurigen Straßen und direkt unter dem berühmten Tokyo Tower lag, hatten wir das Gefühl, durch die hölzernen Tore in Wänden aus Lehm und die verschiedenen Gärten eine andere Welt und vielleicht auch eine andere Zeit zu betreten. Auf der Feier gab es japanisches Essen vom Feinsten und es gab noch eine japanische Eigenart: Die Feier hatte – schon auf der Einladung – nicht nur einen Beginn, sondern auch eine Endzeit.
Ab dem folgenden Tag bis zum Wochenende mit dem Seminar war unser Tagesablauf immer gleich: Training (wenn es ein Frühtraining gab) – Frühstück – Sightseeing in irgendeinem Stadtteil Tokyos – Mittagessen – kurze Pause im Hotel – Training – Abendessen – Bett.
Die Hochzeitsfeier war schon ein guter Einstieg in die persönlichere Beziehung zu Japan, aber das erste Training – für einige ja der erste Besuch im Tendokan, dem Hauptdojo des Tendoryu Aikido – ist immer etwas ganz Besonderes; wie ist das Dojo, wie sind die Japaner, wie verhalte ich mich richtig? Wer sich jetzt unter dem Begriff „Hauptdojo“ einen besonders traditionellen Ort vorstellt, der wird sicher erstmal enttäuscht. Die gute Atmosphäre resultiert aus dem, was die Gruppe aus dem Inneren des Profanbaus gemacht hat: Das Dojo befindet sich im ersten Stock eines zweistöckigen Hauses, in dem auch noch Karate und Kendo trainiert werden. Nicht nur durch die Lage in einem Zweckbau im Hinterhof sondern vor allem beim Betreten des Dojos fällt uns Hamburgern sofort die Ähnlichkeit zum Seishinkan auf: Eine relativ kleine Mattenfläche in einem schlichten aber stilvollem Raum, die Umkleiden erreicht man mit einem Gang durch das Dojo und die Leute sind freundlich und hilfsbereit.
Das Training wurde unter der Woche von fast jedem Mitglied des Lehrerteams geleitet, und so kamen wir in den Genuss, das grobe Thema (in der ersten Woche vor allem Angriffe von hinten) nicht nur von Shimizu Sensei, sondern unter anderem auch in der Interpretation von Waka Sensei, Nagai Sensei und Watanabe Sensei zu erleben. Auch wenn Shimizu Sensei das Training gerade nicht selber hielt, so war er dennoch bei jedem Training anwesend und seine Ausstrahlung war im ganzen Dojo zu spüren. Da wir Sensei vor allem durch seine Lehrgänge in Europa und somit seine Wirkung auf Nicht-Japaner kennen, fiel uns auf, welch ein großer Respekt und welche Ehrerbietung ihm auch in seinem Dojo entgegengebracht wird.
Im Tendokan sind die Trainingseinheiten kürzer aber trotzdem schweißtreibender als in unseren Dojos; das selbständige Aufwärmen und das durchweg höhere Tempo (es wird so gut wie gar nicht während der Übungen gesprochen) sorgen schon für diese Intensität. Und während viele Japaner nur eine der Einheiten mit trainieren, sind alle Besucher natürlich nicht nur beide Einheiten dabei, sondern nutzen auch noch die Pause zum freien Training.
Hatte ich noch vor drei Jahren das Gefühl mit niemanden mehr kommunizieren zu können als durch meine wenigen Wörtchen Japanisch, so gab es jetzt doch einige (vor allem Japanerinnen), die sich am Englisch versuchten, und die Sprachbarriere senkte sich merklich. Funktionierte die Verständigung auf der Matte noch über das Prinzip Beobachtung&Nachahmung, gute Führung oder wenige, aber klare Gesten, konnten wir beim Üben in der Pause doch noch über die Techniken sprechen.
Am Mittwoch in der ersten Woche kehrte leider meine Tonsillitis wieder zurück, und ich konnte nicht aktiv am Training teilnehmen, sondern nur vom Mattenrand zu schauen. Von dort fiel mir nach kurzer Zeit ein Japaner auf, dessen Bewegungen anders waren; in ihnen war eine Unsicherheit, die sich von der eines normalen Anfängers unterschied. Nach weiterer Beobachtung wurde mir sofort klar: Der Mann ist blind! Erst nach dieser Erkenntnis dachte ich an den Hund im Eingang des Dojos und hörte die leisen japanischen Erklärungen eines anderen Mannes, der sich wohl dieses Blinden angenommen hatte – wie gut muss eine Gruppe funktionieren, damit man bei den dynamischen Bewegungen des Aikido auf engem Raum einen Blinden integrieren kann!?!
Am folgenden Tag fegte ein Taifun über Tokyo, und ich war gar nicht so traurig den Tag im Bett zu verbringen, sicherlich hätte ich gerne trainiert, aber am nächsten Tag wollte ich ja fit für die Reise nach Izu sein.
Bereits um 6 Uhr morgens warteten vier große Reisebusse an der Hauptstraße vor dem Dojo und dank der perfekten Organisation seitens des Tendokans waren alle Leute schnell im richtigen Bus und die Busse auf dem Weg nach Izu. Wer von der „deutschen Gründlichkeit“ spricht, der sollte einmal eine Gruppe von Japanern etwas organisieren lassen – Pausen jede Stunde, Proviantierungsmöglichkeiten, sorgsam geplante Sightseeing Stopps und eine landschaftlich schöne Strecke brachten uns nicht nur sicher zu unserem Ziel, sondern bescherten uns auch herrliche Blicke auf den Fuji San (der Dank des Taifuns sogar eine weiße Spitze hatte). Raus aus der Metropolregion Tokyo-Yokohama ging es gen Süden, und bald hatten wir auf der einen Seite dichte Bergwälder und auf der anderen Seite den Ozean. Sobald es etwas ebener wurde, kamen Reisfelder, Obstplantagen oder kleine Dörfer und Städte in Sicht; da diese gerne in Flussmündungen und somit an der Küste errichtet waren, wurde uns ganz anders bei dem Gedanken an die Tsunamikatastrophe von 2011.
Das Tendo World Seminar fand im Kannon Onsen statt, einem Hotel mit heißen Quellen in dem das Tendokan jedes Jahr um diese Zeit einen Lehrgang abhält. Mit über 160 Teilnehmern (zur Hälfte Japanern, zur anderen Hälfte Deutsche, Dänen, Niederländer, Belgier, Franzosen, Türken, Italiener, Serben, Slowenen, Mexikaner, Chinesen, Russen und Amerikanern) war dieses Seminar natürlich ungleich größer und setzte viel Organisation voraus. Es gab jeden Tag gemeinsam Essen (auch wenn der Fisch zum Frühstück nicht bei jedem gleich gut ankam), ein Abendprogramm sowie die Möglichkeit in die nahe gelegene Stadt Shimoda zu fahren – vor allem aber gab es das Training auf schönen neuen Tatami (Matten) und viel Zeit für ausgiebige Bäder in den heißen Quellen.
Da ich auch für das Training auf dem Seminar nicht so ganz fit war, hatte ich die Chance auch oft etwas von außen zu beobachten, und gerade bei Teilnehmern aus so vielen Ländern gab es viel zu sehen: Trotz der Globalisierung und damit einhergehenden Verwestlichung ist die japanische Kultur immer noch sehr stark durch die alten feudalen Prinzipien geprägt; dieses komplexe System erschließt sich einem Besucher nicht so leicht, tritt aber in der Struktur eines Dojos und beim Training stark in Erscheinung. Besonders fällt der große Respekt auf, der Shimizu Sensei aber auch grundsätzlich Autoritäten wie Eltern oder älteren Menschen entgegengebracht wird.
Während viele der Nicht-Japaner die ewigen Verbeugungen vielleicht nur müde belächeln oder halbherzig kopieren, demonstrieren die Japaner gerade durch diesen Gehorsam ihre Einstellung zum Individuum: Der Einzelne ist nicht wichtig – eine diametrale Sicht im Vergleich zu unserer Ellenbogengesellschaft. Shimizu Sensei hat uns auf dem Seminar mehrfach versucht, die Sicht der Japaner auf verschiedene Dinge, wie zum Beispiel die eigene Firma oder das Dojo, zu erklären, aber erst nachdem ich die Japaner im Umgang mit den vielen alltäglichen Kleinigkeiten erlebt habe, wurde es mir klarer.
Auch auf dem Seminar wurde je eine Einheit von Waka Sensei und eine von Nagai Sensei geleitet und man konnte deutlich erkennen, was Shimizu Sensei uns in Deutschland schon so oft erzählt hatte: Auch in Japan wird das Aikido durch die Persönlichkeit des Ausführenden beeinflusst.
Jeder noch so schöne Lehrgang, vor allem mit den Annehmlichkeiten eines so guten Hotels und der heißen Quellen, geht mal vorbei, so dass der letzte Abend und mit ihm das große Barbecue viel zu schnell kamen! In einer schönen Gartenanlage bei lauer Nacht gab es köstliches Essen und viele Gespräche, und so mancher traf sich danach noch, um (im Zustand gesteigerter Lebensfreude nach reichlichem Sake Genuss) ein letztes Bad unter dem herrlichen Sternenhimmel zu haben.
Der Rückweg nach Tokyo war wieder genauso gut organisiert wie der Hinweg nach Izu und so erreichten wir nach vielen Zwischenstopps und reich an neuen Eindrücken und Erfahrungen gegen Abend wieder das Tendokan.
Wegen der späten Rückkehr sollte das Frühtraining am kommenden Morgen ausfallen und so meldeten wir uns daraufhin auch noch vom Abendtraining ab und nutzen den Dienstag der zweiten Woche für eine Fahrt nach Kamakura; diese alte Stadt, cirka 70 km südlich von Tokyo, war im 13. Jahrhundert der Regierungssitz Japans und besitzt zahlreiche gut erhaltene Tempel und Schreine aus dieser Epoche. Da Inga leider erst zum Seminar nachkommen konnte, wollten wir einige der besonderen Attraktionen erst mit ihr in der zweiten Woche erkunden.
Leider gab es an dem Tag häufig mal einen Schauer und so wurden wir zwischendurch auch immer mal etwas nass… trotzdem besuchten wir neben der Altstadt einen großen shintoistischen Schrein und einen buddhistischen Tempel. Den Abschluss bildete der Kotoko-in, ein Tempel mit einer großen Buddha Statue; der Daibutsu in Kamakura gehört zu den bedeutendsten Darstellungen des Amida Buddha und darf bei keinem Besuch in Kamakura fehlen.
Mit Ausnahme des Tages in Kamakura und des Taifuns kurz vor Izu, hatten wir nie Regen und immer bestes Wetter; die Tagestemperaturen lagen zwischen 20 und 24°C, in der Sonne noch mehr, und so konnten wir in den folgenden Tagen noch viele Parkanlagen, Gärten und andere Sehenswürdigkeiten in Tokyo besuchen.
Ganz besonders für mich war die Einladung eines Mitglieds des Tendokan, der Priester in einem Tempel ist. Eckhardt hatte gefragt, ob er uns alle mitnehmen dürfte, und so machten wir uns mit einer Wegbeschreibung auf und suchten einen Tempel von dem wir nix wussten. Shintoistisch oder buddhistisch, alt oder modern, klein oder groß? Hinter einer Reihe von Hochhäusern an einer vielbefahrenen Ausfallstraße fanden wir den beschriebenen Durchgang und es war wie an so vielen Stellen in dieser lauten Stadt: Wir fanden einen Ort der Ruhe und Erholung. In mitten eines Gartens mit Friedhof stand ein alter buddhistischer Tempel (der ursprünglich ganz wo anders stand und hier vor 60 Jahren her geschafft worden war) und wir wurden herzlich begrüßt. In dem kleinen Gebetsraum durften wir einer Zeremonie beiwohnen, in der wir nur von Zeit zu Zeit das Wort „Aikido“ verstanden, bevor wir in einen Nebenraum zum Tee gebeten wurden. Hier erklärte uns erst unser Gastgeber, dass er für unsere Gesundheit und die Verbesserung unseres Aikidos gebetet habe, bevor sein Vater, der Vorsteher des Tempels, uns noch etwas über den Tempel und die dort praktizierte Form das Buddhismus aufklärte. Die Stunde in dem Tempel war für jeden von uns eine ganz neue Erfahrung, und wir alle waren für die Einladung sehr dankbar.
Die Tage vergingen leider sehr schnell, und so war kaum Zeit für die vielen Sehenswürdigkeiten und das Training (zumal ich mittlerweile ja auch wieder mit trainieren konnte); und so war auch schnell Donnerstag und wir wollten nach dem Frühtraining auf den berühmten Fischmarkt. Der Tsukiji shijo (Markt Tsukiji) gilt als der größte Fischmarkt der Welt und nimmt ein ganzes Stadtviertel ein. Leider soll der Markt in den kommenden Jahren komplett an eine andere Stelle verlegt werden und dann auch nicht mehr so einfach für Besucher zugänglich sein. Also war der Besuch ein Muss, auch wenn wir für die großen Fische leider etwas spät waren. Während es in den großen Hallen alles gibt, was gestern noch im Meer gelebt hat, Fische, Krebse, Schnecken, andere Meeresfrüchte und Algen, so gibt es drum herum alles was man sonst noch zum Kochen oder Essen braucht: Messer, Keramik, Gewürze, Obst&Gemüse, Werkzeug, (Koch-)Kleidung und vor allem viele Restaurants und Garküchen. Hätte der Yen nicht so schlecht gestanden, mein Koffer hätte gnadenloses Übergewicht bekommen…
Leider nahte auch schon der Rückflug, aber kleinere Erkundungen waren noch drin und getreu dem Motto „Irrwege erweitern die Ortskenntnis“ machten wir uns den letzten Tag dann in kleineren Gruppen auf den Weg – viele suchten noch kleinere Mitbringsel oder auch mal einen Tag mit weniger Lärm, einen Tag in einem schönen Park.
Am Samstag ging es dann, mit einer Nacht Zwischenstopp in Istanbul, zurück nach Hamburg, wo wir nach langer Reise vom ersten Frost des Jahres empfangen wurden.
Nach diese schönen Reise möchte ich mich als erstes bei Eckhardt bedanken, nicht nur für die Organisation, sondern vor allem für die täglichen Hilfen auf unseren Ausflügen – ohne ihn und seine Ortskenntnis hätten wir in der Zeit sicher nicht einmal die Hälfte gesehen; und ohne seine Japankenntnis wären wir sicher in so manches Fettnäpfchen mehr getreten!
Obwohl dieses schon mein zweiter Besuch in Japan war, habe ich nach zwei Wochen in diesem faszinierenden Land eines wieder gemerkt: Vieles von dem, was für uns auf den ersten Blick so fremd wirkt, erleichtert auf den zweiten Blick das Leben der Japaner und lässt sie zum Beispiel so eng geballt wohnen und leben. In Japan bestehen Tradition und Moderne nebeneinander, das eine wird oft als Bereicherung des anderen verstanden. Was für uns nur befremdlich wirkt, ist dort Alltag, wie zum Beispiel Frauen oder (seltener) Männer in traditioneller Kleidung in Mitten einer Millionenstadt.
Was das Aikido anbelangt, so konnte ich trotz meiner gesundheitlichen Probleme viele neue Ideen für mein tägliches Training mitnehmen; auf jeden Fall soviel, dass ich im Nachhinein merke, wie stark doch so ein Schub durch eine Japan Reise wirklich ist!
Vor allem jetzt, da die Reise bereits einen Monat her ist, merke ich, wie noch immer Neues hervor sickert, denn auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung.
Björn Ole Pfannkuche